Bilder in der Astronomie :
„In der Schönheit steckt Wissen“

Von Sibylle Anderl
Lesezeit: 8 Min.
Es ist das vielleicht bekannteste Bild des Hubble-Weltraumtele­skops: die „Säulen der Schöpfung“. Auch wenn ihm Beobachtungsdaten zugrunde liegen, lässt insbesondere die Kolorierung Raum für künstlerische Freiheit. Dem besonderen Effekt des resultierenden Bildes kann sich kaum einer entziehen: Es regt dazu an, sich den großen Fragen unserer menschlichen Existenz zu stellen.
Wie schön ist der Kosmos, und warum brauchen wir selbst in der Wissenschaft immer Abbildungen? Der Wissenschaftshistoriker und Philosoph Peter Galison über die Rolle der Bilder in der Astrophysik.
Professor Galison, warum spielen Bilder eine so wichtige Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung von Astronomie?

Die moderne Astronomie hat sich nie auf ihre praktischen Anwendungen als Rechtfertigung für öffentliche Finanzierung verlassen können. Teilchenphysiker, Atomphysiker und Kernphysiker können den Politikern sagen: Was wir tun, ist wichtig für die Industrie oder die nationale Verteidigung. Die Fähigkeiten, Theorien und Instrumente, die wir entwickeln, sind zwar auf Grundlagenforschung ausgerichtet, aber sie generieren gleichzeitig Fachkräfte und Ideen für die Welt der Anwendungen. Die Astronomie muss dagegen direkter an das öffentliche Interesse appellieren. Ich denke, dass die Bilder, die sie über viele Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte produziert hat, einerseits eine wichtige kulturelle Rolle spielen und andererseits dazu beitragen, die Unterstützung durch die breitere Öffentlichkeit für das zu gewinnen, was die Astronomen tun.

Welche kulturelle Rolle ist das?

Die Bilder aus dem Kosmos werfen Fragen auf, und zwar angefangen von Skizzen auf der Grundlage von Teleskopbeobachtungen im 19. Jahrhundert bis zu heutigen vom James-Webb-Weltraumteleskop aufgenommenen Bildern: Wo ist unser Platz im Universum, wie groß ist das Universum? Was ist dessen Ursprung? Woher kommen Sonne und Erde? Diese astronomischen Fragen können grundlegende philosophische, theologische und kulturelle Fragen darüber anregen, wo wir uns in der Welt befinden. Nehmen wir zum Beispiel das auf der Grundlage von Daten des Hub­ble-Teleskops erstellte Bild der „Säulen der Schöpfung“, das eine Sternentstehungsregion im Adlernebel zeigt: Alles an diesem Bild ist darauf ausgerichtet, einen Bezug zu kulturellen Themen herzustellen. Es ist farbig, die Strukturen sind so herausgearbeitet, dass es wie riesige Stalagmiten auf Stelzen aussieht oder wie die Säulen eines antiken griechischen Tempels. Und dann der Titel, übernommen aus einer Predigt aus dem 19. Jahrhundert, „Säulen der Schöpfung“, dessen Resonanz über die Astronomie hinausgeht. Er erzeugt ein unmittelbares theologisches Echo. Ich denke, dass Bilder diesen Effekt haben, allgemeinere kulturelle Fragen direkt einzubeziehen und in einen visuellen Kontext zu bringen. Der kann auf einen Blick wahrgenommen werden, selbst wenn er nicht auf den ersten Blick vollständig verstanden wird.

Gleichzeitig sind Bilder auch für die Wissenschaftler selbst in allen Forschungsbereichen sehr wichtig. Warum?

Ich denke, es gibt tatsächlich einen dringenden Bedarf an Bildern in der Wissenschaft. Statistiken und Gleichungen sind ebenfalls wichtig, und es gibt Momente im Fortschritt der physikalischen Wissenschaften, in denen solche nicht-bildlichen Elemente Vorrang haben und statistische Argumentation grundlegender ist. Aber Bilder spielen eine fundamentale Rolle in unserem Verständnis der Außenwelt. Sie hängen zum Beispiel mit dem Ursprung unseres Verständnisses von wissenschaftlicher Objektivität zusammen. Dieses Konzept hat seinen Ursprung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, als Wissenschaftler versuchten, der Natur zu erlauben, sich mit einem Minimum an menschlichem Eingreifen direkt „auf dem Papier abzubilden“. Diese Idee, die meine Kollegin Lorraine Daston und ich mit dem Begriff „mechanische Objektivität“ bezeichnet haben, war natürlich nie perfekt umzusetzen. Das heißt, es war nie möglich, den Menschen vollständig auszuklammern. Aber es gab viele verschiedene Techniken, die alle darauf abzielten, die vor uns liegenden Objekte so darzustellen, dass sie nicht unsere eigenen Idealisierungen und Entscheidungen grundlegend widerspiegeln. Seit der Zeit, als wir die Wissenschaft zum ersten Mal „Wissenschaft“ nannten in Abgrenzung zur Naturphilosophie, spielten Bilder eine sehr grundlegende Rolle dabei, wie wir die grundlegenden Objekte unserer verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erfassen.

Peter Galison ist Professor für die Geschichte der Wissenschaften und der Physik an der Universität Harvard.
Peter Galison ist Professor für die Geschichte der Wissenschaften und der Physik an der Universität Harvard.Peter Galison
Wissenschaftliche Bilder folgen dem Ideal, den menschlichen Einfluss zu minimieren, sind aber gleichzeitig stark in die öffentliche Kultur eingebettet…

Ja, ich gehe im Allgemeinen nicht von einer starren Trennlinie zwischen der Wissenschaft und ihrem allgemeinen kulturellen Umfeld aus. Wissenschaftler sind Menschen, die gleichzeitig in der Alltagswelt leben. Ihr Verständnis von Bildern wird auch von dem Bildrepertoire geprägt, das wir alle sehen. Betrachtet man wissenschaftliche Bilder der Romantik oder der Aufklärung in Frankreich, spiegeln sie die allgemeinen Ansprüche und Erwartungen an die künstlerische Darstellung des 18. Jahrhunderts im weiteren Sinne wider. Wissenschaftler leben nicht in einer Blase. Die Bilder innerhalb der Wissenschaft werden auch von dem geprägt, was außerhalb der Wissenschaft passiert. So wie Bilder außerhalb der Wissenschaft von dort zirkulierenden wissenschaftlichen Bildern beeinflusst werden.

Sie sind an der Black Hole Initiative beteiligt, einem interdisziplinären Projekt, das sich der Erforschung von Schwarzen Löchern widmet. Das erste Bild eines Schwarzen Lochs ist ein wunderbares Beispiel für ein Bild, das die Öffentlichkeit stark beeinflusst hat: Es fand sogar seinen Weg in die MoMA-Sammlung. Warum ist dieses Projekt für Sie interessant?

Die Planungen für die Black-Hole-Initiative begann ungefähr im Jahr 2015, als sich eine Gruppe von US-Wissenschaftlern aus Astronomie, Mathematik, Physik, Geschichte und Wissenschaftsphilosophie zusammentat, um diese höchst mysteriösen, seltsamen und bizarren Objekte zu untersuchen. Sie erschienen uns Forschern aus allen disziplinären Richtungen unendlich interessant - die Kombination dieser verschiedenen Felder ermöglichte den Weg zu einem Verständnis, das keiner dieser Bereiche alleine liefern konnte. Die Black-Hole-Initiative wurde 2016 offiziell gestartet, und einer von mehreren Schwerpunkten war das Event Horizon Telescope, eine internationale Kollaboration, die 2019 mehr als 200 Mitglieder in einem Dutzend verschiedener Länder besaß. Unser Kollege Sheperd Doeleman war der Direktor des EHT. Nachdem ich einen großen Teil meiner Karriere über Bilder nachgedacht hatte, erschien mir die Idee, ein Bild des am schwersten zu fassenden aller überhaupt vorstellbaren Objekts zu machen, eines Objekts, das kein Licht reflektiert oder erzeugt, einfach wahnsinnig interessant, und ich wurde immer mehr in diese Arbeit hineingezogen.

„Da ist ein Schwarzes Loch!“ - Das Bild des Event Horizon Telescope von 2019 hat es sogar ins MoMA geschafft.
„Da ist ein Schwarzes Loch!“ - Das Bild des Event Horizon Telescope von 2019 hat es sogar ins MoMA geschafft.dpa
Das EHT präsentierte 2019 das erste Bild eines Schwarzen Lochs und es wurde auf den Titelseiten praktisch aller Zeitungen gedruckt. Man kann wohl sagen, dass dieses Bild eine größere öffentliche Wirkung hatte als jede der theoretischen Forschungen zu Schwarzen Löchern zuvor. Warum?

Eines erscheint mir besonders faszinierend: Es gibt keine radikale Trennung zwischen dem wissenschaftlichen Bild und dem Bild, das der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Wir haben in der Wissenschaft oft den Fall, dass die Wissenschaftler ein Bild haben, und dann erstellen sie eine stark schematisierte Idealisierung für die Öffentlichkeit. Auch in diesem Bild mussten wir eine Farbe auswählen, um das infrarote Licht zu repräsentieren, das für uns Menschen nicht sichtbar ist. Aber dass es hier keine zwei Versionen gab, bedeutet, dass die Betrachtung des orangen Rings durch Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler eine indexikalische Qualität hatte: Man sieht da etwas, das sich in einer Kausalkette bis hin zu Photonen befindet, die die unmittelbare Umgebung des Horizont eines Schwarzen Lochs verlassen haben, das größer ist als unser Sonnensystem. Und ich denke, dass selbst diejenigen von uns im Team von Wissenschaftlern, die seit Jahren Simulationen davon gesehen haben, wie dies aussehen könnte, bestürzt waren. Wenn man sich das reale Bild ansieht, hat die schwarze Leere in der Mitte etwas leicht Furchterregendes. Das Bild besitzt eine besondere Macht: Man kann es ansehen, darauf zeigen und sagen „Da ist ein Schwarzes Loch“, nicht: „So könnte ein Schwarzes Loch aussehen wenn man es sich vorstellt, es simuliert, mithilfe eines Computers.“ Und ich denke, das ist ein bemerkenswerter Moment, den die Öffentlichkeit genau wie die Wissenschaftler registriert hat.

Die besondere Qualität dieses Bildes besteht also darin, dass es sich um ein echtes empirisches Bild eines Schwarzen Lochs handelt. Es gibt neben diesen empirischen, im Kern von Teleskopen generierten Bildern auch Darstellungen anderer Typen in der Astrophysik: etwa Bilder, die aus Modellen oder Simulationen stammen, idealisierte wissenschaftliche Illustrationen und auch künstlerische Darstellungen. Was sind deren jeweilige Rollen?

In der Wissenschaft verwenden wir Idealisierung auf viele verschiedene Arten. Jede Gleichung ist eine Idealisierung, oft nutzen wir vereinfachte Gleichungen (Idealisierungen von Idealisierungen) als nützliche Faustregeln und Heuristiken. Das sind keine gescheiterten Versuche einer realistischen Darstellung. Es kann im Gegenteil von Vorteil sein, zu idealisieren, Merkmale herauszupicken, die hervorstechend, wichtig für das Verständnis sind und uns zu neuen Ideen führen können. Ähnlich kann das Vereinfachen von Bildern enorm hilfreich sein – manchmal um einen Mechanismus klar und einprägsam zu machen oder einen Maßstab besser zu verdeutlichen. Diesen Aspekt der öffentlichen Präsenz von idealisierten, vereinfachenden Bildern halte ich für sehr wichtig. Sie dient unserem Verständnis.

Und was ist mit künstlerischen Darstellungen?

Die Eindrücke eines Künstlers, insbesondere in der Astronomie, sind oft in einem hohen Maße pseudorealistisch. Nehmen wir etwa die künstlerische Darstellung, wie es ist, auf dem Mars oder einem Jupitermond stehend hinaus zu schauen. Da ist die Funktion eine andere: nicht so sehr Vereinfachung, sondern eine Art fiktive Projektion dessen, wie es wäre, dort zu sein. Ich denke, es hilft den Menschen, sich Zukunftsszenarien vorzustellen, Proportionen zu verstehen und wie bestimmte Situationen aussehen könnten. Und neben diesen pseudorealistischen Darstellungen spielen die idealisierten astronomischen Bilder der NASA oder der ESO, über die wir gerade gesprochen haben, eine wichtige Rolle. Sie vermitteln einer breiteren Öffentlichkeit Begeisterung darüber, was etwa das James-Webb-Teleskop oder ein anderes Teleskop produziert. Die Bilder, die für Astronomen wichtig sind, sind für die Öffentlichkeit manchmal aber auch einfach nicht sehr interessant. Spektroskopische Aufnahmen, aus denen man die Zusammensetzung von Gas und Staub ableiten kann, sind beispielsweise zentral in der Astronomie, aber normalerweise tauchen sie nicht auf der Titelseite von Magazinen auf. Die grundlegende visuelle Darstellung eines Exoplaneten ist ein Diagramm der Helligkeit seines Sterns als Funktion der Zeit. Sie sehen einen kurzzeitigen Abfall in der Helligkeit und übersetzen dies in Informationen über die Bahn des vor dem Stern vorbeiziehenden Planeten. Das sind Bilder, die Wissenschaftler brauchen und lieben. Aber wenn Sie vermitteln wollen, wie es auf so einem Exoplanet aussieht, brauchen Sie phantasievolle, künstlerische Rekonstruktionen.

Die  Zeichnungen, die Galileo Galilei vom Mond anfertigte, würden wohl viele auch heute noch als schön bezeichnen.
Die Zeichnungen, die Galileo Galilei vom Mond anfertigte, würden wohl viele auch heute noch als schön bezeichnen.Sibylle Anderl
Schönheit scheint in diesen Bildern eine wichtige Rolle zu spielen. Ist das charakteristisch für die Astronomie?

Interessant ist, dass sich die Eigenschaften dessen, was als schönes wissenschaftliches Bild gilt, ändern. Wir kennen das aus der Kunstgeschichte: Es gibt keine einheitliche Definition von Schönheit, die klassische Skulpturen, die Renaissance, das Viktorianische Zeitalter, Pop-Art und Graffiti abdeckt. Wenn Sie etwa in der Geschichte der Astronomie ins viktorianische England zurückgehen und verfolgen, welche Debatte darüber geführt wurde, ob kosmische Nebel in Sterne auflösbar sind oder nicht: Das hatte einen sehr philosophischen und politischen Inhalt. Es ging darum, wie viel wir von der Welt fundamental erfassen können. Solche Debatten spielten damals in kulturellen Auseinandersetzungen eine große Rolle. Und diese handgezeichneten Schwarz-Weiß-Drucke unterschieden sich stark von Bildern des James-Webb-Teleskops oder den „Säulen der Schöpfung“. Schönheit spielt tatsächlich eine Rolle. Aber wir müssen unseren Künstlern und Kunsthistorikern zuhören und verstehen, dass das, was als schön gilt, zu einer bestimmten Zeit historisch beeinflusst ist. Wir lernen eine Ästhetik, und diese Ästhetik formt dann, wie wir Dinge gut darstellen.

Aber wenn wir uns zum Beispiel die Zeichnungen des Mondes von Galileo Galilei ansehen, würde wohl auch heute noch jeder zustimmen, dass diese schön sind.

Ja, das sind sie. Nun, er wurde als Künstler ausgebildet und lernte zeichnen. Und er nutzte sein Kunstwissen, insbesondere der Hell-Dunkel-Malerei, um die Schatten und Helligkeiten als reflektierende Berge und Täler auf dem Mond zu verstehen. Eine seiner größten Entdeckungen war die Aussage, dass der Mond keine glatte Kugel ist, wie es als Vermächtnis der Wissenschaft des klassischen Altertums behauptet worden war: eine Philosophie, der zufolge der Mond und alles, was sich darüber befindet, perfekt ist. Und Galileo sagte: nein, wenn Sie sich auf dem Mond die Tag-Nacht-Grenze ansehen, können wir den Einfall von Licht und Dunkelheit auf beiden Seiten davon sehen. Und diese Beobachtung können wir auf der Grundlage dessen verstehen, wie Licht auf Oberflächen fällt, so wie es Künstler sehen. Das ist also ein gutes Beispiel, warum die Bilder schön sind. Aber in dieser Schönheit, in dieser Kunstfertigkeit, steckt Wissen.